Die Sprache ist eng verbunden mit unserem Menschsein. Schon in frühester Zeit haben die Menschen die Heilkraft der Sprache entdeckt und genutzt, und mit Segens- und Heilssprüchen zur Therapie von Leiden eingesetzt. Die Sprache macht es uns möglich, Situationen zu beschreiben, Gefühle in Worte zu fassen, Sprachlosigkeit zu überwinden und im Austausch mit anderen Wahrnehmungen und Sachverhalte zur Sprache zu bringen, zu überprüfen und zu neuen Einsichten zu kommen. Wir sind alle von Natur aus Erzählerinnen und Erzähler.
Die Poesie- und Bibliotherapie hat ihre Wurzeln im integrativen Ansatz der Psychotherapie von Hillarion Petzold und Ilse Orth. Dabei steht die gestaltete Sprache im Mittelpunkt. Eigene Worte zu finden, für das, was mich beschäftigt, was mich tief bewegt, was vielleicht noch gar nicht ganz bewusst geworden ist, stärkt und heilt. Durch Achtsamkeit und kreatives Tätigsein mit Worten, Bildern, Musik und Bewegung finden Menschen zu ihren eigenen schöpferischen Quellen und lernen Neues über sich selbst.
Jeder Mensch, der das Alphabet und eine Sprache kennt, kann schreiben. Die Poesie- und Bibliotherapie führt in kleinen Schritten ans eigene Schreiben heran. Wahrnehmungsübungen, Gedichte und kreative Methoden helfen, in den Fluss zu kommen und öffnen die Türen zur schöpferischen Quelle, die in jedem Menschen schlummert. Die Poesie-Therapie ist keine literarische Schule. Sie fördert die Feinfühligkeit für Worte.
Poesie- und bibliotherapeutische Übungen können in Einzelstunden oder in Gruppen durchgeführt werden. Gruppen sind besonders heilsam und hilfreich, weil wir Menschen keine Einzelwesen sind. Wir sind Menschen als Mitmenschen. Unsere Identität bilden wir unter anderem aus der Zuweisung von Eigenschaften und Fähigkeiten durch unsere Mitmenschen und dem Umstand, wie wir darauf reagieren. Z. B.: „Du bist ein kluges Kind.“ oder "Das lernst du nie."
Doch unsere Identität ist im Fluss, sie verändert sich. Die Anteilnahme an einem Text und das achtsame, respektvolle und ehrliche Feedback durch die Gruppe wirkt erhellend, stärkend, ermutigend und heilsam.
Quelle: Petzold Hilarion G., Orth Ilse (Hrsg.), Poesie und Therapie. Über die Heilskraft der Sprache, Aisthesis Verlag 2015 Bielefeld, 3. Auflage